Donnerstag, 15.12.2016

Du liest zu viel

 

„Zu viel kann man gar nicht lesen“, sagte Hannes hinter seiner aufgeschlagenen Zeitung.

 

„Doch!“ Lilo legte den Taschenrechner auf den Tisch und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich hab das gerade mal überschlagen: Du verbringst pro Tag, niedrig geschätzt, 180 Minuten mit Zeitung lesen. Das sind mehr als tausend kostbare Stunden im Jahr. Bücher nicht eingerechnet!“

 

Hannes war gerade bei der Außenpolitik angelangt. „Ich will eben wissen, was los ist auf der Welt.“

 

Lilo rutschte rüber zu Hannes und warf einen Blick in die ZEIT. „Ja. Aber wozu? Die Bomben in Gaza fallen, auch ohne dass du davon weißt. Und davon zu wissen, macht dich noch nicht zu einem besseren Menschen. Oder wolltest du dich da etwa nützlich machen? Mit deinem Bypass. Und deinem kaputten Rücken.“

 

Hannes dachte gar nicht daran, hinter seiner Zeitungsmauer aufzutauchen. Ihm war natürlich klar, woher der Wind wehte. Es war Sonntagnachmittag und Lilo wollte Gedankenaustausch. Lilo wollte Nähe. Hannes fand, mit Lilo auf der Couch zu sitzen und Zeitung zu lesen, während sie sich in ein Buch vertiefte, war Nähe genug. Ab und zu das Rascheln beim Umblättern einer Seite, ein kurzer Blick, ein Räuspern oder Kaffee nachschenken. Jeder für sich und doch beisammen. Das war sein Traum von Nähe.

 

Beim Abendbrot wollte Hannes wie gewohnt nach seinem geliebten SPIEGEL greifen, aber Lilo war schneller und schleuderte ihn mit einem geschickten Wurf ganz nach oben auf den Küchenschrank. „Schatz: Du bist pensioniert! Du kannst aufhören, den Besserwisser zu spielen! Es gibt keine naseweisen Gymnasiasten mehr, denen du mit Aktualität imponieren könntest. Die Kinder sind aus dem Haus. Und mir musst du die Welt nicht erklären. Das mach ich schon selber!“

 

Lilo schob ihm die BECEL hin, aber Hannes nahm Butter aufs Brot. Das war kindisch, das wusste er. „Quatsch. Ich lese für mich. Das ist wie täglich Brot. Geistige Nahrung eben.“ Hannes wedelte mit seiner Brotscheibe in der Luft herum. „Steht schon bei Lichtenberg.“

 

Lilo schenkte Früchtetee nach. „Ja. Und bei Schopenhauer steht, man kann sich auch dumm lesen. Weil man dabei das Denken verlernt.“

 

„Danke!“ Hannes nahm seinen Stuhl, schob ihn vor den Küchenschrank und angelte nach dem SPIEGEL.

 

Lilo lächelte für sich. Dann begann sie einen Apfel aufzuschneiden. „Wenn allerdings – Schatz: ich frage mich gerade, was wäre, wenn man Bildung wirklich essen könnte. Nehmen wir an, du stirbst. Und die Würmer stürzen sich gierig auf dein Hirn und futtern dabei natürlich auch deine ganze humanistische Bildung und jahrzehntelange Zeitungslektüre in sich hinein. So gelangt dein Wissen über den Wurm in die Nahrungskette. Als verfallsresistentes Nebenprodukt, oder so. Die Würmer sterben natürlich auch und gehen als Dünger in die Erde ein. Und die Bildung gelangt dann über die Erde ins Gras, von dort aus im Handumdrehen in die Kuh und damit auch in die Milch.“ Lilo hielt mitten im Apfelschneiden inne. Ihr Blick verklärte sich. „Nicht auszudenken: Wenn diese Milch schließlich in einem trostlosen PENNY-Markt am Stadtrand verkauft würde. Und eine allein erziehende Mutter von drei Kindern, nennen wir sie ruhig Jaqueline, trinkt von dieser Milch. Und plötzlich debattiert Jaqueline, statt wie sonst den ganzen Vormittag VERBOTENE LIEBE zu gucken, mit der für sie zuständigen Sozialarbeiterin über Kafka und die Postmoderne!“

 

Lilo schob sich eine Apfelscheibe in den Mund. „Das wäre dann dein posthumes Geschenk an die Menschheit: Gleiche Bildungschancen für alle. Deine Lesesucht bekäme nachträglich doch noch Sinn.“

 

Hannes war vom Stuhl gesprungen und fuchtelte drohend mit dem zusammengerollten SPIEGEL vor Lilos Nase herum. „Ich lege mich jetzt zwei Stunden lang in die Badewanne! Und rate mal, was ich da tun werde!“

 

Spätabends im Bett kuschelte Lilo sich an und legte ihren Kopf auf seine Schulter. „Liebling, hör doch: Zum ersten Mal in deinem Leben bist du wirklich frei. Du hast jetzt alle Zeit der Welt. Nur für dich! Mach doch was draus.“

 

Hannes seufzte und legte sein Buch auf den Nachttisch. Sie konnten es einfach nicht! Frauen konnten einen einfach nicht in Ruhe lassen! Hannes hatte schon vor langer Zeit aufgehört, zu glauben, Lilo sei die Falsche für ihn. Mit jeder anderen Frau wäre es das Gleiche gewesen, so viel hatte das Leben ihn gelehrt.

 

Hannes nahm die Lesebrille ab. „Was! Was soll ich deiner Meinung nach tun!“

 

Lilo fing an, sein Brusthaar zu kraulen. „Na: Gar nichts. Zum Beispiel. Lass dich doch mal treiben. Streune meinetwegen durch die Stadt. Genieße das süße Nichtstun. Und hör dir zu! Lass dich überraschen. Von dir selber.“

 

Hannes schob Lilos Hand weg und griff wieder nach Buch und Lesebrille. Überraschen! - von wegen. Hannes wusste genau, was da kommen würde: Lebensbilanz, was sonst! All die verpassten Glücksmomente, die versäumten Gelegenheiten. Die würden eine nach der anderen vor ihm aufmarschieren. Wer sehnte sich schließlich schon als Kind danach, einmal Lehrer zu werden. Und welches wenn auch noch so geglückte Leben war nicht am Ende ein Kompromiss.

 

Frauen! Ja: Die schüttelten das nur so aus dem Ärmel, das Bilanzieren. Kunststück. Lilo machte das mindestens einmal im Jahr. Aber wie ungeniert sie sich dabei in die eigene Tasche log: Schmerz als Erfahrung und Versäumtes als Lebenslektion zu verbuchen, das konnte ja jeder! Die war doch von vorne bis hinten frisiert, diese Bilanz! Und wie abgeschmackt und einfallslos von Lilo, diesen Selbstbetrug auch noch jedes Mal mit einem neuen Haarschnitt zu besiegeln!

 

Lilos Hand tastete sich wieder zu ihm herüber. „Schatz, und wenn du nun nur einmal die Zeitung im Briefkasten stecken lässt? Nur morgen früh? Betrachte es doch als Experiment. Wenn du bloß das eine Mal stark bist und der Versuchung widerstehst! Du glaubst zwar nicht daran, aber ich bin mir ganz sicher: du wirst es überleben, dieses eine Frühstück ohne SÜDDEUTSCHE!“

 

Hannes stöhnte auf. „Ja, mein Gott. Ja. Schon gut. Zum Frühstück morgen keine Zeitung. Ausnahmsweise. Zufrieden?“

 

Lilos Gutenachtkuss traf ins Leere, weil Hannes schnell unter ihr wegtauchte, um das Licht auszumachen. Im Dunkeln lagen beide wach und hörten einander atmen. Jetzt war es seine Hand, die zu Lilo herüber tastete. „Seit ich nicht mehr in die Schule muss, wache ich jeden einzelnen Morgen mit Todesangst auf und frage mich: Was soll ich mit all der freien Zeit anfangen?“

 

Lilo streichelte seine Wange. Ganz behutsam. „Das geht vorbei. Glaub mir. Das legt sich schon. Du wirst sehen. Irgendwann wird sie deine Freundin, die Zeit.“

 

Hannes wälzte sich noch lange herum und versuchte sich auszumalen, wie es wohl wäre, die Zeit, die Unerbittliche, zur Freundin zu haben. „Dann doch lieber Lilo“, dachte er, bevor der Schlaf ihn erlöste.

 

Als Hannes am nächsten Morgen aus unruhigen Träumen erwachte, war es gerade mal viertel vor Fünf. An Weiterschlafen war nicht mehr zu denken, das wusste er und griff nach Buch und Lesebrille, legte beides aber sofort wieder auf den Nachttisch. Nein. Oh, nein. Heute würde er stark sein. Lesen war ja schließlich keine Sucht. Hannes verschränkte die Arme unterm Nacken. Um halb sieben würde er aufstehen. Eine Runde durch den Park laufen. Wo zum Teufel, waren seine Jogging-Schuhe? Dann frische Brötchen und Frühstück. Und dann? – Ha: Er würde sämtliche Fotos sortieren und in Alben kleben. Von 1987 bis heute. Oder sollte er schreiben? Ein Tagebuch. Das wäre ein Anfang. Aber was aufschreiben? „Ich erlebe ja nichts mehr“, dachte er und drehte sich noch mal um.

 

Bis halb Sechs wälzte Hannes sich im Bett herum. Dann stand er leise auf, zog einen Pulli über den Schlafanzug und schlich auf Socken durch den Hausflur. Lächerlich war das. Er musste ja aussehen wie einer, der dem Nachbarn in aller Herrgottsfrühe die Zeitung klaut.

 

Ein Glück, die SÜDDEUTSCHE war schon da. Vorsichtig nahm er sie aus dem Briefkasten. „Ach, ihr Einzigen. Ihr Himmlischen. Ihr druckfrischen Seiten“, seufzte er. „Seid auch heute meine Schwingen und tragt mich über die Zeit.“

 

Hannes sog andächtig den Geruch von Papier und Druckerschwärze ein, der ihn schon als Heranwachsenden so berauscht hatte. Dann hockte er sich auf den Treppenabsatz, schlug die Zeitung auf und begann zu lesen.

 

 

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